Einwände, die sich aus einem Privatgutachten gegen das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen ergeben, muss das Gericht ernst nehmen, ihnen nachgehen und den Sachverhalt weiter aufklären.
BGH, Beschluss vom 12.01.2011 - IV ZR 190/08 vorhergehend: OLG Koblenz, 11.07.2008 - 10 U 842/07 LG Bad Kreuznach, 31.05.2007 - 2 O 403/00
GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 286
Problem/Sachverhalt
Die Klägerin (K) begehrt Leistungen aus der mit der Beklagten zu Gunsten des Geschäftsführers der K geschlossenen Berufsunfähigkeitszusatzversicherung. Das Berufungsgericht weist die Klage gestützt auf ein gerichtliches Gutachten ab; dieser Sachverständige hat ausgeführt, der Gesundheitszustand habe sich gebessert, der Geschäftsführer sei bloß noch zu 35% berufsunfähig. Auf das von der K vorgelegte, während eines sozialgerichtlichen Rechtsstreits des Geschäftsführers gegen die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte privat eingeholte Gutachten eines Facharztes für Orthopädie, in dem dargelegt wird, der Geschäftsführer könne seinen früheren Beruf nicht mehr ausüben, Änderungen seien nicht zu erwarten, geht das Berufungsgericht, das die Revision nicht zulässt, mit keinem Wort ein.
Entscheidung
Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg. Der BGH kassiert die Berufungsentscheidung und verweist zurück. Indem das vorgelegte Privatgutachten gar nicht beachtet wurde, hat das Berufungsgericht das rechtliche Gehör der K beachtlich missachtet: Wie ein Gericht bei Vorlage eines dem Gerichtsgutachten entgegenstehenden Privatgutachtens vorgehen muss, ist in dem hier vorstehend formulierten Leitsatz dieser Entscheidungsbesprechung näher ausgeführt, der als wörtliches Zitat den Gründen dieses BGH-Beschlusses entstammt.
Praxishinweis
Dies ist nun mindestens die vierte binnen kurzer Zeit zu derselben Fragen ergangene BGH-Entscheidung: Wie hat der Tatsachenrichter mit inhaltlich dem eingeholten gerichtlichen Gutachten entgegenstehenden Privatgutachten umzugehen? Mit Hinweis auf diverse frühere Entscheidungen hat der BGH 2008 dazu ausgeführt, dass der Richter das Privatgutachten erkennbar verwerten muss (IBR 2009, 489). Noch im selben Jahr ist dann herausgestellt worden, dass der Richter darzulegen hat, warum er dem gerichtlichen Gutachten den Vorzug gibt (IBR 2009, 178). Anfang 2010 folgte der klare Hinweis aus Karlsruhe, dass das Gericht die Streitpunkte dieser Fachleute mit dem gerichtlichen Sachverständigen erörtern und diese Abwägung in den Entscheidungsgründen belegen muss, wobei "Leerformeln" - so O-Ton des BGH! - keinesfalls genügen (IBR 2010, 308). Die höchstrichterlichen "Segelanleitungen" an die Instanzgerichte werden nun noch konkreter (= drängender): Das Gericht muss von Amts wegen weitere Klärung schaffen - oder umgekehrt, sofern es dem gerichtlichen Gutachten gegen das Privatgutachten folgen will, auf den Fall bezogen konkret darlegen, warum es das Privatgutachten für nicht entscheidungsrelevant hält. In der Praxis dürfte dies dazu führen, dass immer dann, wenn sich das Privatgutachten nicht als von vorneherein klar fehlerhaft darstellt, der gerichtliche Sachverständige zu den fachlichen Einwänden gehört werden muss. So langsam mutiert der Privatgutachter in eine Art "Semi-Beweismittel". Leupertz, Richter im 7. Senat des BGH, hatte vor Jahren den Privatgutachter als "schlafenden Riesen" tituliert; der wacht nun zügig auf! Mit Privatgutachten in Rechtsstreitigkeiten kommende Anwälte sollten die Vorlage mindestens mit den Zitaten dieser jüngeren BGH-Entscheidungen flankieren. Kommt es zur Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen, sollten sie ihren privaten mitbringen.
VRiLG Prof. Jürgen Ulrich, Dortmund
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Quelle: IBR Verlag mit ausdrücklicher Genehmigung des IBR Verlages IBR Online